Anwendungssysteme in der Medizin

Was sind Anwendungssysteme?

Unter Anwendungssystemen in der Medizin versteht man Computerprogramme, die bei medizinischen Aufgaben im Rahmen der Krankenversorgung die beteiligten Personen unterstützen. Das Spektrum reicht dabei von Software, die die Suche in einem Arzneimittelverzeichnis möglich macht, bis zu komplexen Systemen für alle Aufgaben in der Praxis eines niedergelassenen Arztes. Anwendungssysteme dienen also der Bereitstellung und Verarbeitung von Informationen. Deshalb spricht man auch von rechnergestützten Informationssystemen.

Anwendungssysteme im Krankenhaus

Konzept

Die Leistungen eines Krankenhauses, d.h. die Qualität der Krankenversorgung, hängen wesentlich von der Verfügbarkeit und der Güte von Informationen. Es kommt darauf an, dass die richtige Information in der richtigen Form zur richtigen Zeit am richtigen Platz verfügbar ist (Informationslogistik). Um dieses Ziel zu erreichen, werden Krankenhausinformationssysteme konzipiert und aufgebaut.

Dabei ist zu beachten, dass nicht alle Aufgaben der Informationsverarbeitung mit Hilfe von Computern ausgeführt werden (können), d.h. es gibt auch Informationssysteme, die ohne Rechnerunterstützung auskommen müssen. Es geht also nicht darum, möglichst viele Rechner einzusetzen, sondern auch die nicht automatisierbaren Verfahren der medizinischen Informationsgewinnung und -verarbeitung müssen in einem Gesamtkonzept berücksichtigt werden.

Beispiel: Ein konventionelles Patientenaktenarchiv ist ein Informationssystem ohne Rechnerunterstützung.

Bereits seit etwa 30 Jahren werden Computer in Krankenhäusern eingesetzt. Dabei lag der Schwerpunkt lange Zeit auf den administrativen Aufgaben. Dazu gehören Patientendatenverwaltung, Abrechnung, Buchhaltung, Warenwirtschaft, Telefonabrechnung u.a. Verfahren. Erst in den letzten Jahren werden verstärkt auch Computer im klinischen Bereich verwendet. Dieses Ungleichgewicht liegt daran, dass die administrativen Funktionen i.a. problemlos automatisiert werden können und dafür auch nicht krankenhaus-spezifische Software verwendet werden kann (z.B. für die Buchhaltung). Dagegen gibt es im klinischen Bereich viele Schwierigkeiten und Vorbehalte, die in dem besonderen Umgang mit Informationen in der Medizin ihren Ursprung haben.

Heute kann man Krankenhausinformationssysteme (KIS) kaufen, die den Anspruch erheben, alle wesentlichen automatisierbaren Aufgaben im Krankenhaus zu unterstützen. Bei genauerer Analyse stellt sich aber heraus, dass solche Systeme nur für kleine Krankenhäuser mit wenigen Betten und nur einigen Fachabteilungen in Frage kommen. Für große Krankenhäuser der Maximalversorgung werden heute verteilte Krankenhausinformationssysteme konzipiert und aufgebaut. Sie setzen sich aus vielen Subsystemen zusammen, die eine weitgehende Eigenständigkeit der informationsverarbeitenden Verfahren in den einzelnen Abteilungen und Funktionsbereichen garantieren. Nur so kann man den unterschiedlichen Anforderungen und Bedürfnissen Rechnung tragen.

Verteilung bedeutet nicht, dass es keine Zentrale mehr gibt. Vielmehr sind in einem verteilten KIS sowohl die Daten als auch die Aufgaben zentral und dezentral verteilt. Zugrunde liegt das sog. Client-Server-Prinzip, d.h. es gibt im KIS Anwendungssysteme, die gewisse Leistungen bereitstellen (= Server), und Anwendungssysteme, die diese Leistungen nutzen (= Clienten). Es gibt z.B. folgende Typen von Servern:

Die Verteilung geschieht nach folgendem Grundsatz: dezentral soviel wie möglich (an Daten und Programmen zu halten) und zentral nur soviel, wie unbedingt nötig. Die Entscheidung, wo welche Daten gespeichert und verwaltet werden sollen, beeinflusst auch Datensicherheit und Datenschutz. Wenn z.B. die gleichen Daten zentral und dezentral verändert werden können, wird es schwierig, die Datenkonsistenz zu gewährleisten, d.h. man weiß nicht mehr, was der letzte Stand und welcher Inhalt gültig ist.

Kommunikationsstruktur                   

Dieses Konzept setzt eine leistungsfähige Kommunikationsinfrastruktur voraus, d.h. die Möglichkeit, Informationen bedarfsgerecht zwischen den Subsystemen auszutauschen. Man spricht daher auch von Informations- und Kommunikationssystemen. Hardwaremäßig wird das System durch ein Rechnernetz realisiert. Dabei unterscheidet man zwei Ebenen der Kommunikation: die Transportebene und die Anwendungsebene.

Die Transportebene umfasst zunächst das Kabelnetz und weitere Hardwarekomponenten, sog. Netzrechner. Für große Krankenhäuser, die in mehreren Gebäuden über eine größere Fläche verteilt sind, wird ein zentraler Ring oder Backbone angelegt, an den in den einzelnen Gebäuden und Abteilungen sog. Subnetze angeschlossen werden. Hohe Übertragungsgeschwindigkeiten werden z.B. für den Austausch von Bildern oder Videosequenzen benötigt.

In der Anwendungsebene werden für den Datenaustausch zwischen den einzelnen Anwendungssystemen sog. höhere Protokolle festgelegt. Das bekannteste höhere Protokoll ist HL7 (Health Level 7). Es wurde in USA entwickelt und normiert (ANSI) und wird mittlerweile auch in anderen Ländern benutzt. Der Name soll darauf hinweisen, dass es sich um ein Protokoll für die Ebene (Layer) 7 (im Bild Application) im ISO/OSI-Referenzmodell handelt. Das folgende Bild zeigt das Modell projiziert in zwei Anwendungssysteme mit den entsprechenden Kommunikationsverbindungen. Layer 1 bis 4 (im Bild grau) entspricht der Transportebene und Layer 5 bis 7 der Anwendungsebene.

In HL7 ist definiert, zu welchem Zeitpunkt welche Daten in welcher Form zwischen den Anwendungssystemen in einem Krankenhausinformationssystem übertragen werden. Der Austausch erfolgt in Abhängigkeit von Ereignissen. Zu jedem Ereignis sind die zu übertragenden Nachrichten und ihre Form genau festgelegt.

Beispiel:

Ereignis Quelle Nachricht Ziel
Aufnahme Patientendatenverwaltung Patientenstammdaten Labor-Informationssystem

Bei Aufnahme eines Patienten werden also die Stammdaten (Name, Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, I-Zahl usw.) automatisch von dem Anwendungssystem "Patientendatenverwaltung" zu dem Anwendungssystem "Labor-Informationssystem" übertragen. Dafür müssen in beiden Systemen entsprechende HL7-Schnittstellen programmiert sein.

Wenn das KIS aus sehr vielen Anwendungssystemen besteht, ist es sinnvoll, für die Durchführung und Koordination der zahlreichen und komplexen Kommunikationsvorgänge einen eigenen Kommunikationsserver einzusetzen. Er übernimmt die Nachrichten vom sendenden Subsystem, wandelt sie um (d.h. Umcodierung, Änderungen im Satzaufbau, Umrechnungen) und leitet sie an den vorgesehenen Empfänger weiter. Dabei ist es auch möglich, eine Nachricht an mehrere Empfänger oder Nachrichten von verschiedenen Anwendungssystemen an einen Empfänger zu schicken. Gleichzeitig werden alle Kommunikationsvorgänge überwacht (automatisches und manuelles Monitoring).

Beispiele für Anwendungssysteme

Je nach Einsatzbereich und Funktionsspektrum unterscheidet man verschiedene Klassen von Anwendungssystemen im Krankenhaus.

Klinische Arbeitsplatzsysteme für Stationen
Die Station ist die wichtigste Leistungsstelle im Krankenhaus für die Krankenversorgung. Durch den Einsatz von Software in diesem Bereich soll die stationäre Krankenversorgung bei gleichzeitiger Entlastung des ärztlichen und pflegerischen Personals verbessert werden.

Klinische Arbeitsplatzsysteme bieten folgende Funktionen:

Es gibt kommerziell verfügbare Systeme für diese Anwendungen, die allerdings an die Organisationsabläufe und Bedürfnisse des einzelnen Krankenhauses angepasst werden müssen.

Klinische Arbeitsplatzsysteme für Ambulanzen
Neben den Stationen wird ein Teil der Leistungen eines Krankenhauses in Ambulanzen erbracht. Gesundheitspolitisch sollen die ambulanten Leistungen sogar ausgeweitet werden, um die teure stationäre Behandlung nur dann anzuwenden, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Daher wurden die teilstationäre sowie die vor- und nachstationäre Behandlung und das ambulante Operieren als neue Formen der Krankenversorgung eingeführt.

In den klinischen Arbeitsplatzsystemen für Ambulanzen sind u.a. folgende Funktionen erforderlich:

Die klinischen Arbeitsplatzsysteme haben hier im Prinzip den gleichen Funktionsumfang wie Arztpraxissysteme, die bei den niedergelassenen Ärzten eingesetzt werden. Auch die Leistungsanforderung und Befundrückmeldung (z.B. mit Laboratorien oder Radiologen) wird im ambulanten Bereich zunehmend rechnergestützt durchgeführt.

Systeme für Leistungsstellen
Im Krankenhaus gibt es eine ganze Reihe von nicht-bettenführenden Leistungsstellen, die einzelne Leistungen im Gesamtspektrum der Krankenversorgung erbringen. Dazu gehören die operativen Bereiche zum Durchführen von Operationen, die klinischen Laboratorien, bildgebende Leistungsstellen wie Radiodiagnostik, Nuklearmedizin und Kernspintomographie, Pathologie, Mikrobiologie, Hämostaseologie und Blutbank, Endoskopie u. a.. Die dort installierten Anwendungssysteme heißen dann z.B. Labor-Informationssystem (LIS) oder Radiologie-Informationssystem (RIS).

Der Ablauf der Leistungsanforderung, Leistungserbringung und Ergebnisübermittlung verläuft grundsätzlich nach festem Schema. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Leistungsstelle Material (Blut, Gewebe oder ähnliches) erhält oder der Patient selbst in der Leistungsstelle anwesend sein muss. Konventionell geschieht die Leistungsanforderung mit Formularen und die Ergebnisrückmeldung in Form von Informationen auf Papier.

Unabhängig von speziellen Anforderungen einzelner Leistungsstellen lassen sich gewisse Grundfunktionen definieren:

Schematischer Ablauf von Leistungsanforderung und Befundrückmeldung:

Archivsysteme
Da die Zahl der bei der Krankenversorgung anfallenden Informationen ständig zunimmt und gleichzeitig Aufbewahrungsfristen einzuhalten sind, spielt die Archivierung von Patientenakten eine wichtige Rolle. Neben den konventionellen Verfahren (Einhängen der Patientenakten in Registerschränke) kommen auch zunehmend EDV-gestützte Verfahren zum Einsatz. Die Systeme müssen die Ablage aller Dokumente in Form von Papier, Datenträgern, Grauwertbildern, Videobildern, Ton und Sprache erlauben. Neben der sicheren Ablage (Speicherung) muss jederzeit der Zugriff (Retrieval) zu diesen Dokumenten unter Wahrung des Datenschutzes möglich sein. Für eine effektive Benutzung ist auch eine angemessene Präsentation der wiedergefundenen Dokumente erforderlich, beispielsweise innerhalb der elektronischen Patientenakte.

Informationsdienste
Darunter versteht man die Bereitstellung von Informationen am Arbeitsplatz. Da geschieht kaum mehr lokal durch Zugriff auf Festplatte oder CD sondern auf Server im Internet oder Intranet.

Nach Art der Informationen, ihrer Speicherung und ihrer Präsentation unterscheidet man:

Administrative Systeme
Administrative Systeme bieten sowohl krankenhausspezifische als auch allgemeine Funktionen. Zu den krankenhausspezifischen Funktionen zählen das Patientendatenmanagement und die Verwaltung einer Patientendatenbank, stationäre und ambulante Leistungsabrechnung, Verwaltung der Stammdaten, Informations- und Berichtswesen, Bereitstellung von Organisationsmitteln, Beschaffungs- und Wartungsmanagement für medizinische Geräte.

Allgemeine Funktionen sind Finanzbuchhaltung, Kreditoren- und Debitorenbuchhaltung, Anlagenbuchhaltung, Kosten- und Leistungsrechnung, Controlling, Material- und Lagerwirtschaft, Personalwirtschaft, Lohn- und Gehaltsabrechnung, Bürofunktionen sowie Unterstützung von sogenannten Versorgungssystemen wie Küche oder Fahrdienst. Diese Funktionen können zum großen Teil mit konventionellen betriebswirtschaftlichen Anwendungssystemen erbracht werden.

Medizinisches Netzwerk
Für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung arbeiten verschiedene Einrichtungen zusammen (siehe Abbildung). Diese Zusammenarbeit erfordert eine intensive Kommunikation. Der Informationsaustausch erfolgt zunehmend über das Internet. Dabei sind besondere Sicherheitsvorkehrungen notwendig, da personenbezogene Daten übertragen werden. So entsteht ein internetbasiertes medizinisches Netzwerk mit den Zielen, die Versorgungsqualität zu erhöhen, die Eigenverantwortung des Patienten zu stärken, neue Behandlungsformen (z.B. "shared care") einführen zu können und - "last not least" - Kosten zu reduzieren (z.B. durch Vermeidung von Doppeluntersuchungen). Die folgende Abbildung zeigt schematisch die beteiligten Institutionen und mögliche Kommunikationsbeziehungen.

Auf Anwendungsebene sind bereits einige Projekte realisiert, z.B. elektronisches Rezept oder Übermittlung von Abrechnungsdaten an die Kostenträger. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren Konzepte für eine institutionsübergreifende elektronische Patientenakte (elektronische Gesundheitsakte (EGA)) entwickelt. Alle behandlungsrelevanten Daten – von der Medikation bis hin zu diagnostischen Bilddaten – stehen nicht mehr nur in Patientenakten und Archiven der Krankenhäuser oder in den Karteien der niedergelassenen Ärzte, sondern sind in elektronischer Form im medizinischen Netzwerk verfügbar.

Die EGA hat folgende Vorteile für die Patientenversorgung:

Die Zusammenarbeit im deutschen Gesundheitssystem wird damit insgesamt gefördert und verbessert.

Eine ausreichende Datensicherheit soll mit zwei verschiedenen Chip-Karten erreicht werden. Der Patient erhält statt der jetzigen Krankenversicherungskarte eine Gesundheitskarte, auf der persönliche und administrative Daten gespeichert sind und die mit einer persönlichen Identifikationsnummer (PIN) gesichert ist. Mit dieser Karte erlaubt er den Zugriff auf seine elektronische Gesundheitsakte, die zum Teil auf der Karte selbst oder in speziell gesicherten Servern gespeichert ist. Welche Daten dort tatsächlich gespeichert werden, liegt ausschließlich in der Verantwortung des Patienten. Vorgesehen sind beispielsweise Informationen über eingenommene Arzneimittel, Notfallinformationen, wie Risikofaktoren und Allergien, medizinische Dokumente, wie Arztbriefe oder Gutachten sowie Patientenverfügungen.

Auch der Zugriff auf die gespeicherten Daten erfolgt in der Regel unter Kontrolle des Patienten. Personen aus dem Gesundheitswesen müssen sich mit einer zweiten Karte (Health Professional Card, HPC) identifizieren. Mit dieser Karte ist auch eine digitale Signatur möglich. Nur in Ausnahmesituationen und Notfällen ist der Zugriff nur mit der HPC möglich. Alle Zugriffe werden protokolliert.

Gesundheitskarte und HPC werden zur Zeit in großen Pilotprojekten getestet, um alle technischen und organisatorischen Probleme vor einer flächendeckenden Einführung zu lösen. Beispielsweise müssen überall dort, wo Patientenkontakte erfolgen, entsprechende Kartenleser installiert sein. Außerdem müssen eine "narrensichere" Handhabung der Karten sichergestellt und jeglicher Missbrauch ausgeschlossen sein.

Die Übertragung medizinischer Daten über ein Rechnernetz wird häufig als Telemedizin bezeichnet. Dementsprechend ist das medizinische Netzwerk eine telemedizinische Anwendung. Es ist aber sinnvoll, den Begriff Telemedizin auf die Übermittlung von Daten in der direkten Patientenversorgung einzuschränken. Dazu gehört beispielsweise die Telekonsultation, wenn radiologische Bilder vom Entstehungsort zu einem Arzt übertragen werden, der die Befundung vornimmt, oder die Telechirurgie, wenn ein Arzt von Ferne einen OP-Roboter steuert. Der allgemeinere Begriff der Telematik im Gesundheitswesen umfasst dann auch die Teleausbildung in der medizinischen Lehre, sowie Anwendungen in der medizinischen Forschung und im Gesundheitsmanagement.